Im Grand Café in Paris sitzen kurz nach Weihnachten des Jahres 1895 einige Menschen und warten ­gespannt auf ein bis dahin unbekanntes Spektakel: Der Kinematograph ist ihnen angekündigt worden, bewegte Bilder. Als auf einmal ein Zug auf die Stuhlreihen zurast, springen die Besucher in Panik auf, um nicht von dem Koloss überrollt zu werden. Wer sich heute „Die Ankunft eines Zuges auf dem ­Bahnhof La Ciotat“ anschaut, erkennt leicht, dass das wohl eine Legende ist – zu deutlich fährt der bremsende Zug nach links aus dem Bild. Eine Sensation und eine Umwälzung aller Sehgewohnheiten war die Ankunft des Films auf den Leinwänden der Welt allemal.
Die Eisenbahn und der Film sind durch die Geburtsstunde des Kinos untrennbar miteinander verschweißt. Beide sind im wahrsten Sinne des Wortes bahn­brechende Erfindungen, die die Welt verändert ­haben. Züge ­konnten auf einmal Personen regelmäßig von einem Ort an den anderen transportieren. ­Besonders berühmt: die Verbindung von Ost- und Westküste der heutigen USA. Filme dagegen konnten Ereignisse, die nicht im Hier und Jetzt stattfanden, festhalten und durch Raum und Zeit reisen lassen. Ein Zugfenster, an dem die Welt wie ein Film vorbeirauscht. Gleise, die aussehen wie ein Filmstreifen. Ständige Bewegung, während der Kinogast wie in einem Abteil auf seinem Sitz verharrt. Nehmen Sie also Platz und freuen Sie sich auf eine abenteuerliche Reise! Wir haben fünf Filme herausgepickt, die Spannung, Humor und nicht zuletzt Action liefern – zuverlässig, pünktlich und nachhaltig.

Klassiker unter Volldampf:

Der General
1862, mitten im amerikanischen Bürgerkrieg, entführen Soldaten der Nordstaaten eine Lokomotive, schließlich ist die Eisenbahn das wichtigste Transportmittel, nicht zuletzt für Kriegsgüter. Der Lokführer Johnnie Gray (Buster Keaton) mag kein Held sein – die Südstaaten-­Armee verzichtet auf die Dienste des schmächtigen Mannes –, aber sein Handwerk beherrscht er ­glänzend. Also macht er sich auf, seine Lok, genannt „Der ­General“, und auch sein Ansehen zurückzuholen. Heute würde „Der ­General“ zum großen Teil aus dem Computer ­kommen, viel zu aufwändig wären die atemberaubenden Zug­szenen inklusive eines gigantischen ­Brückeneinsturzes. Buster Keaton veranstaltet eine Bahn-Choreografie ­voller genialer Pointen und halsbrecherischer Stunts. Hier steht der Kessel immer unter Volldampf.

Der General (The General, USA 1926)
Regie: Buster Keaton, Clyde Bruckman. Mit Buster ­Keaton, Marion Mack, Frank Barnes.
Auf YouTube und Blu-ray

Hitchcock par excellence:

Eine Dame verschwindet
Iris Henderson vermisst Miss Froy. Hat sie sich die Zugbekanntschaft mit der älteren Dame nur ­eingebildet? Niemand will Miss Froy gesehen ­haben. Hat sie ­alles nur geträumt, eingeschlafen vom gleich­mäßigen ­Rattern des Waggons? Oder steckt sie mitten in ­einer groß­angelegten ­Intrige? Alfred Hitchcock weiß, ­welche ­filmischen Möglich­keiten in der Eisenbahn stecken: gleichzeitig Ruhe und hohe Geschwindigkeit. Ein ­begrenzter Raum, sei es, um sich zu verstecken oder zu fliehen, sei es, um zu verfolgen oder zu finden. „Eine Dame verschwindet“ ist spannender Thriller und Screwball-Komödie zugleich. Der Film platzt vor überraschenden Einfällen und über allem liegt ein Hauch von Under­statement und britischem Humor. Und ­immer wieder spielt das, was man durch die Zugfenster sieht, eine entscheidende Rolle.

Eine Dame verschwindet (The Lady Vanishes, GB 1938)
Regie: Alfred Hitchcock. Mit Margaret Lockwood, Michael Redgrave, Dame May Whitty.
Auf YouTube

Krimi mit Starbesetzung:

Mord im Orientexpress
Dass das Mordopfer ein furchtbarer Mensch ist, steht in dieser Agatha-Christie-Verfilmung schnell außer ­Zweifel. Ihm weint keiner eine Träne nach. Aber natürlich kann Hercule Poirot (Albert Finney) den Fall, den ihm sein Freund, der Eisenbahndirektor, anträgt, nicht auf sich beruhen lassen. Pech für Täter oder Täterin, denn so ­minutiös der Mordplan auch sein mag, dem Verstand des belgischen Superdetektivs mit dem feinen Geschmack ist er nicht gewachsen. Während Poirot ermittelt und ­dabei die Annehmlichkeiten im luxuriösen ­Orient-Express ­genießt, beginnen die Verdächtigen zu frösteln, steckt der Zug doch in einer riesigen Schnee­verwehung fest. Neben den geistreichen Dialogen und Stars wie Lauren Bacall, Sean Connery oder Anthony Perkins ist gerade der Stillstand des Zuges der Clou. Na ja, und ein bisschen auch die überraschende Auflösung.

Mord im Orient-Express (Murder on the Orient ­Express, GB 1974)
Regie: Sidney Lumet. Mit Albert Finney, Lauren ­Bacall, Ingrid Bergman, Sean Connery.
Auf DVD/Blu-ray und bei Streamingdiensten

Echte Eisenbahnliebe:

Zugvögel … einmal nach Inari
Hannes Weber (Joachim Król) hat eine Leidenschaft, die vermutlich schon vor der Verbreitung des Internets ­wenige Menschen geteilt haben: Er lernt ­Kursbücher auswendig. Sein Ziel ist ­Inari, wo Europas Fahrplan-­Junkies um einen Titel streiten: Wer kann aus dem Kopf die schnellste Verbindung zwischen zwei ­europäischen ­Städten nennen. Siegesgewiss tritt ­Hannes die ­Reise nach Finnland an, die zur Flucht wird, als er ­unschuldig unter Mordverdacht gerät. Unterwegs findet er neue Freunde, neue Sichtweisen und sogar die ­Liebe. Aber vor allem stellt sich eine Frage neu: Ist die schnellste Verbindung überhaupt die ­beste? Liebe­voller als in ­diesem 90er-Jahre-Fest der Kurs-, Schlaf- und Triebwagen lässt sich die Zuneigung zum Eisenbahn­wesen nicht in Szene setzen.

Zugvögel … einmal nach Inari (Deutschland/­Finnland 1998)
Regie: Peter Lichtefeld. Mit Joachim Król, Peter ­Lohmeyer, Outi Mäenpää.
Auf DVD und bei Streamingdiensten

Bildgewaltige Action:

Unstoppable – Außer Kontrolle
An alle Lokführer*innen: „Nicht nachmachen!“ Selbst wenn es kurzfristig vorteilhaft erscheint – eine ­fahrende Lok verlässt man nicht. Für den Film ist ­dieser ­professionelle Missgriff allerdings ein Segen. Denn der nun unkontrolliert und immer schneller übers Gleis ­jagende Zug löst eine Spannungssituation aus, selten so ­furios in ­Szene gesetzt wie hier. ­Ständig ­drohen neue ­Kollisionen, die Leitstelle ist zerstritten. Zwei Lokführer, ein alter Hase (Denzel Washington) und ein ­Frischling (Chris Pine), werden mit ­ihrem ­eigenen Zug zur letzten Hoffnung. Timing, Gefühl für ­Geschwindigkeit, ächzende Loks, ­kreischende ­Räder an der Belastungsgrenze – und als ­Kulisse die wunderbare alte Industrielandschaft ­Pennsylvanias. „Unstoppable“ ist ein Fest für Augen, ­Ohren – und Nerven.

Unstoppable – Außer Kontrolle (Unstoppable, USA 2010)
Regie: Tony Scott. Mit Denzel Washington, Chris Pine, Rosario Dawson.
Auf DVD/Blu-ray und bei Streaming­diensten