Ingrid Rathje, 78 Jahre, aus Langenhorn, mit Sohn Klaus

Immer anders schön

Ich bin in Süderlügum aufgewachsen. Damals konnte man Kinder noch mit Autoausflügen locken – mich auch. Eines Tages sind wir nach Schlüttsiel gefahren. Wir haben zugeschaut, wie die Schiffe zu den Inseln und Halligen fahren, die Vögel ihre Kreise drehen, die Schafe den Deich mähen und die Sonne golden im Watt versinkt. Jetzt sind 70 Jahre vergangen, und ich komme immer noch hierher, um genau das wieder und wieder zu tun. Das Siel 59 – die gemütliche Basis, um diesen Ort zu erleben – war damals nur ein schmuckloser Rotsteinklinkerunterstand für Schiffspassagiere. In den 1970er-Jahren zog hier Gastronomie ein und seither bin ich regelmäßiger Gast. Mal allein, mal mit Freundinnen und Freunden und von klein auf an auch immer mit meinem Sohn. Klaus lebt schon lange in Berlin, besucht mich aber sehr regelmäßig. Und immer, wenn er da ist, gehen wir ins Siel 59. Auch einen Großteil der Ausflüge für unseren gemeinsamen Reiseführer haben wir hier geplant. Mein Sohn würde sagen, dass das so eine Art Stammkneipe ist. Tatsächlich ist die Chance, hier Bekannte zu treffen, sehr hoch. Das Siel 59 ist mit jedem neuen Besitzer etwas schöner geworden. Dort, wo man jetzt auf das Speicherbecken gucken kann, war früher noch eine Wand. Heute sind überall Fenster, die einen einzigartigen Rundumblick ermöglichen. So was gibt es im Norden nicht so oft – und das so nah am Wasser. Man kann hier stundenlang den Blick schweifen lassen, beobachten, wie sich das Wetter entwickelt, was die Schafe und Vögel machen, oder das Farbenspiel des Himmels bewundern. Es tut immer so gut, den Deich entlangzuwandern und die Ruhe, die Weite und den Wind zu genießen. Mit etwas Glück erwischt man einen Seehund, der durchs Hafenbecken schwimmt.

Der Gezeitenkalender interessiert mich dabei nicht. Bei Flut ist es wunderschön, wenn der Wind Wellen auf dem Wasser schlägt – und das Glitzern der Sonne auf dem Watt bei Ebbe hat auch was für sich. Es ist jedes Mal anders und immer anders schön. Ich komme einfach vorbei und lasse mich von diesem Ort überraschen. Mal versinkt die Sonne im Meer, mal im Watt. Sicher ist nur, dass sie am nächsten Morgen wieder aufgehen wird.

Gemeinsam mit ihrem Sohn Klaus Rathje (52), Autor und Werbetexter aus Berlin, hat die ehemalige Bankkauffrau Ingrid Rathje Hunderte Orte an der Nordsee besucht und ihre Eindrücke in spannenden Erlebnisminiaturen verarbeitet. 2023 entstand daraus der Reiseratgeber „Schleswig-Holstein Nordseeküste – 50 Mikroabenteuer zum Entdecken und Genießen“. Ein Band zur Ostsee soll im Frühjahr 2026 folgen. Die leidenschaftliche Fotografin veröffentlicht ihre Bilder auch auf Instagram unter heimatmomente.sh.