Schreiben zwischen Strand und Schleuse

Kiel ist vor allem als Hafenstadt an der Ostsee bekannt, als Hotspot der Literaten gilt Deutschlands nördlichste Landeshauptstadt bislang nicht. Zwar tummelten sich hier seit eh und je Poeten aller Art, aber sie bereisten die Stadt vor allem wegen ihres maritimen Klimas. Berühmtes Beispiel ist etwa Friedrich Gottlieb Klopstock, der heutigen Schülern weniger durch seine naturschwärmerische Lyrik als vielmehr wegen Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ bekannt ist: Im Angesicht eines Gewitters fasst darin die ergriffene Lotte nach Werthers Hand und sagt „Klopstock!“, womit sie das berühmte Gefühlschaos lostritt. Klopstock, eine ausgesprochene Wasserratte, reiste im Sommer 1776 nach Kiel und wurde dort zu seiner Erheiterung beim Nacktbaden beobachtet – wie bei einem Dichter üblich, hat er diese Begebenheit später literarisch verarbeitet. Auch Theodor Fontane, Klaus Groth,
Theodor Storm und viele andere haben in Kiel nicht nur gebadet, sondern in und über Kiel geschrieben, haben hier gelehrt, gelebt, gelitten und geliebt. Und sie haben die Stadt mit Groll und Zuneigung, in Texten und im Herzen, in die Welt getragen. Kiel ist also nicht zu unterschätzen, denn wer genauer hinschaut, entdeckt hier ein viel reicheres literarisches Leben, als es auf den ersten Blick scheint. Wir begeben uns auf die Suche nach den Spuren von Poeten und ihres Schaffens in der Fördestadt.

10.00 Uhr

Segeln: Nord-Ostsee-Kanal, Schleusen Kiel-Holtenau

Bevor er seinen weltberühmten Spionageroman „Das Rätsel der Sandbank“ verfasst, segelt der Ire Erskine Childers 1897 durch den nagelneuen Kaiser-Wilhelm-Kanal und passiert dabei von Kiel aus die Holtenauer Schleusen. Das majestätische Erlebnis findet Eingang in die Schilderungen des Romans. Umgekehrt verläuft der Weg bei Jules Verne, dessen „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ in Kiel Station macht. 17 Jahre später segelt Verne einen Teil tatsächlich selbst, allerdings damals noch auf dem Eider-Kanal.

Erskine Childers, Das Rätsel der Sandbank (1903);
Jules Verne, Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864)

11.30 Uhr

Baden: Schadstoff Düsternbrook!

Im Diederichsenpark stand einst das Haus Forsteck, in dem das Ehepaar Meyer Mitte des 19. Jahrhunderts reisende und residierende Geistesgrößen empfing. Von hier waren es nur wenige Meter hangabwärts bis zur Seebadeanstalt Düsternbrook, ein Weg, auf den sich neben dem einheimischen Klaus Groth auch der gelegentliche Gast Theodor Fontane (1819–1898) machte, um sich in der Förde abzukühlen. Seinen Gastgebern und ihrer Villa widmete er ein anerkennendes Gedicht.

Theodor Fontane, Haus Forsteck (1878)

12.15 Uhr

Entspannte Auszeit

Als Kieler Student im Jahre 1837 hat Theodor Storm (1817–1888) vor allem Erstaunen für seine Kommilitonen übrig. Die seien weniger an der Wissensvermehrung als am Fechten und Trinken interessiert. Dramatischer geht es in seiner ein Vierteljahrhundert später verfassten Novelle „Auf der Universität“ zu, die mit einem Selbstmord endet und wesentlich in der 1865 abgebrannten Waldwirtschaft „Sanssouci“ im Düsternbrooker Gehölz spielt. An diesen Hauptschauplatz erinnert ein Gedenkstein.

Theodor Storm, Aus der Studienzeit (1837), Auf der Universität (1863)

13.45 Uhr

Platt Schreiben: Klaus-Groth-Brunnen, Ratsdienergarten

Ein Gedicht von Klaus Groth (1819–1899) dürfte Schleswig-Holsteinern von Kindheit an als Lied im Ohr klingen: „Lütt Matten de Has’ …“ Seinen größten Erfolg hatte Groth mit der plattdeutschen Gedichtsammlung „Quickborn“, die ihn nach Kiel und dort in das gehobene Geistesleben – unter anderem in das Haus Forsteck – führte. Allerdings konnte die Realität mit seinen Ambitionen kaum Schritt halten, trotz zahlreicher Versuche blieb ihm die ordentliche Professur an der Kieler Universität verwehrt.

Klaus Groth, Lebenserinnerungen (1891), Dat eerste Klockenlüden an’n Niemannsweg (1881)

14.00 Uhr

Ehren: Theodor-Mommsen-Büste, Ratsdienergarten

Wer mag, kann sich an den Ort der Wohngemeinschaft begeben, die Theodor Mommsen (1817–1903) und Theodor Storm in der Flämischen Straße 12 teilten. Zu sehen gibt es dort bis auf eine karge Gedenktafel über der Eingangstür allerdings nicht mehr viel. Imposanter ist die Mommsen-Büste im Ratsdienergarten. Seit 2016 erinnert sie an Kiels einzigen und Deutschlands ersten Literaturnobelpreisträger, der mit seiner literarisch anspruchsvollen Geschichtsschreibung Neuland betrat.

Theodor Mommsen, Römische Geschichte (1854–1885)

15.15 Uhr

Taufen: Nikolaikirche, Alter Markt

Einer der wenigen bekannten Dichter, die in Kiel geboren, getauft und konfirmiert sind, ist Detlev von Liliencron (1844–1909). Als Offizier, Monarchist und Nationalist schreibt er zwar kriegsverherrlichende Texte, aber auch moderne Gedichte, die sich ganz dem Moment und seinen Eindrücken verschreiben. Die Lyrik-Dozentur an der Kieler Uni ist nach Liliencron benannt und hat etwa Doris Runge, Nora Gomringer, F. W. Bernstein und Peter Licht als Gastdozenten nach Kiel geführt.

Detlev von Liliencron, Leben und Lüge (1908), Poggfred (1896)

16.00 Uhr

Provozieren: Opernhaus

1922 will der progressive Intendant des Städtischen Theaters mit einem modernen Autor und Dramaturgen – Carl Zuckmayer (1896–1977) – Spuren hinterlassen. Das gelingt: Am 18. April 1923 erlebt Kiel im Opernhaus einen Skandal. Zuckmayers freizügige Bearbeitung eines Stückes des antiken Dichters Terenz macht sich über die Kieler Gesellschaft lustig. Das Premierenpublikum ist erwartbar empört. Der junge Zuckmayer wird zwar entlassen, schildert später das Ereignis aber farbenprächtig – mit sich selbst in der Heldenrolle.

Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir (1966)

17.00 Uhr

Gucken: Südfriedhof, Ecke Kirchhofallee/Lutherstraße

Der bekannteste aktuelle Kieler Schriftsteller ist Feridun Zaimoglu (* 1964). Vor über 30 Jahren kam er als junger Mann nach Kiel und ist seitdem an der Förde geblieben. Oder besser: am Südfriedhof. Dort sitzt der Erzähler seines Romans „Liebesbrand“ vor einer Bäckerei und beobachtet ausdauernd die Kreuzung, an die der Gottesacker grenzt, der das gesamte Viertel benennt. Als Zuschauer dieser Bühne des Alltäglichen kommen auch dem Autor die besten Ideen für seine Geschichten.

Feridun Zaimoglu, Liebesbrand (2008)

18.30 Uhr

Zeichnen: Galerie Club 68, Ringstraße

Ohne Lust auf geregelte Arbeit, aber mit jeder Menge anarchischer Kreativität, schlägt 1979 im Kieler Club 68 die Stunde von Brösel. Der Wirt Holger Henze findet, dass die Comics seines Stammgasts Rötger Feldmann alias Brösel (* 1950) regelmäßig veröffentlicht gehören. Das Satiremagazin Pardon überweist erste Honorare und im darauf fälligen Urlaub wird Werner geboren („Werner macht Flachköpper“), der rasch zur Kultfigur aufsteigt. Seine Markenzeichen: große Nase, vier Haare, norddeutscher Slang und fast philosophische Gelassenheit.

Brösel (Rötger Feldmann), Werner – Oder was? (1981)

Buchtip

Wer seinen literarischen Spaziergang draußen oder auch im Geiste auf dem heimischen Sofa ausdehnen möchte, dem sei das Buch „Kiel literarisch“ von Walter Arnold empfohlen, das auch unserer Tour zugrunde liegt. Es ist 2012 im Wachholtz Verlag, Neumünster, erschienen (ISBN 9783529025549). Derzeit ist es beim Verlag vergriffen, jedoch in Antiquariaten oder der Kieler Buchhandlung Erichsen & Niehrenheim, Dänische Straße 8, erhältlich.