Ein Besuch im Wildtier- und Artenschutzzentrum Sparrieshoop

Ein großer Tag für Ottermädchen Honey: Das zwei Monate alte Waisenkind mit schwarzen Knopfäuglein und dichtem, dunkelbraunem Fell plantscht vergnügt im Teich, wie gewohnt in sicherer Nähe zum Ufer. Und dann auf einmal, mehr versehentlich als geplant, schwimmt Honey ihren ersten Meter. Prustend und quiekend geht es schnell zurück ans Land, wo sie sich gründlich schüttelt. Die junge Dame scheint über ihre neu entdeckte Fähigkeit überrascht zu sein. Uns wiederum verblüfft die Erkenntnis, dass Fischotter von Haus aus wasserscheu sind. Die Mütter müssen ihre Welpen regelrecht zu ihrem Glück zwingen. Sind sie aber erst einmal geschwommen, bekommt man sie aus dem Wasser kaum noch heraus. Den Mama-Job für Honey hat Katharina Erdmann übernommen. Sie hat ihr an diesem Morgen das Fläschchen gegeben und ist mit ihr zum Teich spaziert. Nach diesem so aufregenden Badeausflug kuschelt sich das Otterkind auf Katharinas Schulter und vergräbt die kleine Schnauze in den blonden Locken ihrer Ersatzmutter. Nächstes Jahr soll Honey ausgewildert werden. Und Katharina ist sicher: Bis dahin hat ihr Schützling das Seepferdchenabzeichen locker in der Tasche.

Christian und Katharina Erdmann hatten schon so
ziemlich jede Tierart zu Gast. Bis auf Erdmännchen.

Katharina saß in ihrem Beruf als Schriftsetzerin und Grafikerin fest im Sattel, als sie 2002 durch die Presse auf die Ölkatastrophe vor der Küste Galiziens aufmerksam wurde. 64.000 Tonnen Schweröl waren bei der Havarie des Tankers „Prestige“ in den nordspanischen Atlantik geflossen. Das kostete allein 250.000 Seevögel das Leben. Der Anblick der verölten Tiere bewegte sie derart, dass sie alles stehen und liegen ließ, um sich als freiwillige Helferin beim Technischen Hilfswerk (THW) zu melden. Unter den anderen deutschen Helfern war auch Christian Erdmann, ihr heutiger Ehemann.

Das Thema Tierschutz ließ Katharina nie mehr los. Viele Praktika sowie die Ausbildung zur Jägerin und Falknerin folgten. So wurde aus dem Ehrenamt ein Beruf. Ihr Mann Christian ist gelernter Zootierpfleger. Seit mehr als drei Jahrzehnten widmet er sich mit Leib und Seele dem Tierwohl, gründete zwei Auffangstationen in Niedersachsen, die es bis heute gibt. Und vor elf Jahren hob das Paar gemeinsam das Wildtier-und Artenschutzzentrum in Klein Offenseth-Sparrieshoop (Landkreis Pinneberg) aus der Taufe – eine Auffangstation für in Not geratene heimische Wildtiere sowie für Exoten, die hier in freier Wildbahn keine Chance haben. Warum hier? „Uns wurden derart viele Pfleglinge von Hamburg und Schleswig-Holstein aus nach Niedersachsen gebracht, dass wir akuten Handlungsbedarf sahen“, erklärt Katharina. Aus einer verwilderten Weihnachtsbaumplantage hat sich auf dem 2,6 Hektar großen Gelände eine paradiesische Wild-nis mit vielseitigem Baumbestand und blühenden Wiesen entwickelt. „Was nicht durch uns angepflanzt wurde, ist von allein gewachsen“, sagt Katharina. „Davon profitieren auch der hohe freilebende Wildbestand auf dem Areal und die stark von Landwirtschaft und Neubaugebieten geprägte Umgebung.“

Hochbetrieb herrscht, wenn viele Arten Jungtiere haben. Im Frühjahr und Sommer kümmern sich dann bis zu zehn Mitarbeitende in zwei Schichten um verwaiste, er-krankte oder verletzte Tiere. In einem sehr warmen Jahr wie diesem verschiebt sich die „Saison“ auch mal bis in den frühen Herbst. Momentan befinden sich etwa 300 Tiere in der Auffangstation. Dazu gehören 60 Exoten wie Reptilien oder Papageien. „Das ist viel!“, betont Katharina. Hier könnte man von einem „Corona-Booster“ für die nicht gut durchdachte Anschaffung eines Haustiers sprechen, welcher eben jetzt erst so richtig zutage tritt.

Als Zootierpfleger verfügt Christian Erdmann über Grundwissen zu allen Tierarten, hat schon Krokodile aus norddeutschen Badewannen geholt, drei Kängurus ein-quartiert und in einer 2-Zimmer-Wohnung eine 200-köp-fige Nagerfamilie vorgefunden. „„Animal-Hording geht in der Regel eine menschliche Tragödie voraus“, betonen die Erdmanns und sprechen sich deutlich für die grundsätz-liche Kennzeichnung und Registrierung jedes Haustieres aus, um sie verantwortlichen Halter*innen zuordnen zu können. „Es gibt generell zu wenig Regularien“, so Katha-rina. „Wobei ich die Letzte bin, die nicht verstehen kann, dass man ein Tier halten möchte.“

Auf Tuchfühlung mit Exoten: Tierpflegerin Sina Schröder kümmert sich nicht nur um Wildschwein, Igel & Co., sondern auch um eine Python

Exotische und invasive, also offiziell nicht heimische Arten, dürfen nicht in die freie Wildbahn entlassen werden, sondern müssen vermittelt werden – gegebenenfalls an einen Tierpark. Bei heimischen Wildtieren hingegen ist das oberste Ziel immer die Wiederauswilderung. In den Startlöchern stehen gut 30 Igel, die hier mit sehr viel Sorgfalt, sozusagen in der Kinderstation, aufgepäppelt wurden. „Igel leiden sehr, wenn sie nicht rauskönnen. Ich habe letztes Jahr beobachtet, wie sich ein Jungtier auf die Hinterpfoten gestellt und regelrecht am Gitter festgekrallt hat. Dieses Bild hat sich mir eingebrannt“, erzählt Katharina.

Auch wenn das Team im Winter tendenziell weniger mit heimischen Tieren zu tun hat als zu anderen Jahreszeiten, werden auch dann regelmäßig Wildtiere in Pflege genommen, die durch Autoverkehr, Windkraftanlagen oder andere zivilisatorische Faktoren verletzt wurden. In harten Wintern geraten zudem immer wieder junge Wildtiere bei der Futtersuche in Schwierigkeiten. Ein noch unerfahrener Mäusebussard zum Beispiel. „Man argumentiert gerne, das sei nun einmal der Lauf der Natur. Aber wir Menschen haben die Natur längst aus dem Gleichgewicht gebracht. Was spricht also dagegen, dem geschwächten Mäusebussard auf die Beine zu helfen? Bei einem Wildunfall im Straßenverkehr kann man ja auch nicht von natürlicher Auslese sprechen. Abgesehen davon bleibt von der freien Wildbahn in unserer zivilisierten Welt immer weniger übrig.“

Letztes Jahr wurden in Sparrieshoop erstmals vier Otter aufgenommen. Nun ist Nachzügler Honey dazugekommen. Ihr Fell duftet nach Honig, findet Katharina. „Eigentlich wird Otternachwuchs ein Jahr lang von der Mutter betreut, nun müssen wir das übernehmen“, sagt sie und erinnert sich: „Ein Jagdpächter hatte sie in der Lüneburger Heide gefunden. Vermutlich ist sie auf einem der ersten Fami-lienspaziergänge verloren gegangen oder das Muttertier wurde überfahren. Daher wartet man zunächst einmal 24 Stunden ab, ob die Mutter nicht doch zurückkehrt.“ Baby Honey bekommt seine Streicheleinheiten. Dennoch hält sich Katharina an den Grundsatz: So viel Kontakt wie nötig, so wenig wie möglich. Um Wildbahntauglichkeit zu erlangen, darf ein Tier nicht zu zahm werden. Die Erdmanns und ihr Team leisten neben der Tierpflege sehr viel Beratungs- und Aufklärungsarbeit. Denn nicht immer, wenn ein Notruf eingeht, ist menschliches Eingrei-fen nötig. „Manche Jungtiere wie Feldhase und Rehkitz sitzen von Natur aus oft stundenlang alleine und brauchen dann meist keine menschliche Hilfe. Und im Umgang mit halbwüchsigen Igeln beraten wir die Finder am Telefon oftmals so intensiv, dass sie das Tier gegebenenfalls sogar im eigenen Garten selbst unterstützen können.“

Der eine oder andere tierische Bewohner bleibt für im-mer, beispielsweise ein weißer Nerz, der heute keine Lust auf Besuch hat und sich vor uns versteckt. Er unterstützt Familie Erdmann bei der Aufklärungsarbeit zum Thema Pelz. Auch Minipig Pipita ist Dauergast. Man fand sie als sterbendes Ferkel im Straßengraben in Norderstedt. Die kleine Kämpferin wurde eine Woche über Magensonde mit Haferschleim gefüttert. Heute ist sie fünfeinhalb und dient als Botschafterin in Bezug auf unseren Fleischkonsum, den die Station kritisch hinterfragt und thematisiert, zum Beispiel wenn Kitagruppen und Schulklassen zu Besuch kommen.

FÖJlerin Sarah Piehl (links) und
Praktikantin Cim Skuka packen kräftig mit an

„Trotz Abschiedsschmerz überwiegt die Freude über eine gelungene Auswilderung.“

Katharina Erdmann

Jedes Jahr gehen an die 10.000 Anrufe ein. Aufgenommen werden rund 2.500 Tiere. „Hinter jedem einzelnen Tier steht ein Anrufer, dem das Schicksal dieses Tieres nicht egal ist. Und das wird immer mehr“, sagt Katharina. „Wir nehmen eine allgemein wachsende Achtsamkeit im Bereich Tier-, Natur- und Klimaschutz wahr. Auch in Kitas und Schulen wird heute stärker sensibilisiert.“

„Die Freude über eine gelungene Auswilderung wiegt stärker als der Abschiedsschmerz – das wird mir auch bei Honey so gehen. Dafür machen wir das! Aber auf uns lasten auch der Erwartungsdruck von außen und immer wieder großes Tierleid. Diese Belastung muss man aushalten können, wenn man hier arbeitet. Auch ich habe es über die Jahre lernen müssen“, resümiert Katharina. Gemeinsam mit ihrem engagierten Team leisten die Erdmanns einen noch viel zu wenig beachteten Dienst an einer Gesellschaft, die letztlich die Hauptverantwortung dafür trägt, dass ihre Arbeit überhaupt notwendig ist. Denn mindestens 80 Prozent der Pflegetiere sind durch direkte oder indirekte zivilisatorische Faktoren in Not geraten.

Für die finanzielle Grundsicherung sorgt die Tierschutzstiftung VIER PFOTEN. Und neben der Umweltlotterie Bingo! gibt es den einen oder anderen Fördertopf für tierheimähnliche Einrichtungen. Doch um handlungsfähig zu sein, ist das Zentrum auf Spenden angewiesen. Gerade mit Blick auf den Winter bereiten die steigenden Energiepreise Sorge, da viele Pflegetiere Wärme brauchen. Geld- und Sachspenden, Fördermitgliedschaften oder helfende Hände bei der Garten- und Handwerksarbeit: Es gibt viele Möglichkeiten, zu helfen!

Das Wildtier- und Artenschutzzentrum weiß viele Geschichten zu erzählen – die meisten beginnen traurig, aber viele haben ein Happy End. Und zwischen dem kleinen Birkenhain und den mächtigen Buchen, den wilden Wiesen und Honeys Schwimmschule wächst jeden Tag neue Hoffnung und Artgerechtigkeit.

Anfahrt mit dem ÖPNV: Mit der AKN bis Langmoor, von dort aus ist es ein schöner, rund 15-minütiger Spaziergang. Oder mit dem RE 7 bis Elmshorn und weiter mit Kleinbus 6503 bis Fuchsberger Allee.

Wildtier- und Artenschutzzentrum

Am Sender 2, 25365 Klein Offenseth-Sparrieshoop

  • Wichtig: Die Tierannahme ist nicht immer besetzt, deshalb immer vorher anrufen!
    Telefon: 04121.450 19 39
  • Kostenfreie Führungen und naturpädagogische Seminare buchbar

  • Hunde können nicht mit auf den Rundgang

  • Spendenkonto: IBAN DE83 4306 0967 1285 2016 00

  • www.wildtierundartenschutzzentrum.de

Gut zu wissen: Grundregeln im Umgang mit Wild und Fundtieren

  • Situation zunächst ausgiebig beobachten

  • Ruhig handeln und wenn überhaupt mit leiser Stimme sprechen

  • Eigene Sicherheit beachten, zum Beispiel im Straßen-verkehr oder bei wehrhaften Tieren

  • Ein unterkühltes Tier erst auf Körpertemperatur aufwärmen lassen, bevor man es füttert