Nachhaltige Mobilität ist längst mehr als ein Umweltprojekt, sie wird zum Standortfaktor und Wirtschaftstreiber. Schleswig-Holstein zeigt, wie sich Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit vereinen lassen, wenn öffentlicher Nahverkehr, Unternehmen und Kommunen an einem Strang ziehen. Immer mehr Betriebe fördern mit Jobtickets, Bike-Leasing und E-Ladepunkten den Umstieg auf Bus, Bahn und E-Mobilität. Das entlastet Straßen, senkt Emissionen und stärkt die Bindung von Fachkräften. Eine aktuelle Studie belegt zudem: Jeder in den ÖPNV investierte Euro erzeugt ein Vielfaches an gesamtwirtschaftlichem Nutzen. Mit Projekten wie SMILE24 erprobt Schleswig-Holstein innovative Mobilitätslösungen – und beweist damit, dass moderne Nahverkehrssysteme zugleich ökologisch sinnvoll und ökonomisch klug sein können.
Es ist ein Wochentag wie die meisten für Stefan Oberschelp: Um 8 Uhr verlässt er seine Wohnung in der Preetzer Altstadt, geht acht Minuten zu Fuß zum Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) und steigt um 8.16 Uhr in den Bus der Linie 303. „Auf der etwa 20-minütigen Fahrt lese ich dann oft Wirtschaftsnachrichten“, verrät der 54-Jährige. Oberschelp ist seit März dieses Jahres als Sales-Manager bei der e-nema GmbH beschäftigt und einer von knapp 30 Mitarbeiter*innen, die morgens zum Schwentinentaler Unternehmen pendeln. Die Fahrtkosten übernimmt weitgehend sein Arbeitgeber, denn der gebürtige Ostwestfale hat ein Abonnement des Deutschland-Jobtickets. „Für mich und viele meiner Kolleg*innen ist das ein toller Anreiz, Busse und Bahnen zu nutzen. Und wenn meine Frau und ich wie neulich das Wochenende in Berlin verbringen, können wir auch dort damit fahren.“
e-nema ist bereits das tausendste Unternehmen in Schleswig-Holstein, das einen Rahmenvertrag für das Jobtickett von NAH. SH abgeschlossen hat und der Belegschaft dadurch den Umstieg auf saubere Mobilität ermöglicht. „Ein solches Nahverkehrsangebot passt perfekt zu unser er nachhaltigen DNA“, erklärt Tillmann Frank, Geschäftsführer von e-nema. Mit insgesamt rund 100 Mitarbeiter* innen produziert das Unternehmen Nematoden und andere natürliche Organismen als biologische Alternative zu chemischen Pflanzenschutzmitteln. Mit einer Jahreskapazität von über 600.000 Litern zählt es zu den weltweit größten Herstellern in diesem Bereich. „Wir stellen Produkte her, die Pflanzen schützen – ohne den Einsatz von Chemie“, so Geschäftsführer Frank. „Weil wir dafür natürlich Energie brauchen, arbeiten wir schon seit Jahren daran, Ressourcen an anderen Stellen einzusparen – zum Beispiel durch energiesparende Produktionsprozesse. Ein weiterer wichtiger Aspekt für mehr Nachhaltigkeit betrifft die Mobilität unserer Beschäftigten. Für mehr E-Mobilität – und damit verbunden weniger CO₂-Ausstoß – haben wir auf unserem Betriebsgelände 50 Ladepunkte installiert. Wir fördern zudem Bike-Leasing. Zukünftig wollen wir den Nahverkehr noch mehr in unsere Mobilitätsstrategie einbinden.“ e-nema ist ein Unternehmen, das stellvertretend für viele weitere im Land steht, die die Vorteile des ÖPNV schätzen und nutzen – auch um den CO₂-Fußabdruck des Unternehmens zu verringern. „Für uns ist das Jobticket sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll. Denn wenn wir für das wachsende Team neue Parkplätze bauen müssten, würde das viel Geld kosten“, rechnet Tillmann Frank vor.
Der Preetzer Stefan Oberschelp nutzt für seinen täglichen Weg zur Arbeit das Jobticket.
Wirtschaftsbooster statt Kostentreiber
Für die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Kiel ist ein moderner ÖPNV nicht nur ein Verkehrsmittel, sondern auch ein wirtschaftlicher Impulsgeber, der wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen beiträgt: „Investitionen in den Nahverkehr schaffen Arbeitsplätze. Zudem stärkt der ÖPNV den innerstädtischen Handel, die Tourismuswirtschaft und die Logistikbranche, indem er Verkehrsströme effizient bündelt und Mobilität nachhaltiger gestaltet“, erklärt Milan Nicolai Favier. Der Referent für Verkehr, Mobilität und Logistik leitet den IHK-Arbeitskreis Mobilität und Verkehr, der mit Projekten zur stärkeren Vernetzung der Wirtschaft mit Verkehrs- und Planungsbehörden beiträgt und bei regionalen Mobilitätskonzepten unterstützt.
Eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens MCube im Auftrag der Deutschen Bahn bestätigt die große ökonomische Bedeutung: Demnach erwirtschaftet der ÖPNV in Deutschland jedes Jahr rund 75 Milliarden Euro Wertschöpfung – das Dreifache seiner jährlichen Kosten. Denn diese belaufen sich laut Studie auf etwa 25 Milliarden Euro. Jeder Euro, der in Busse, Regionalzüge oder Straßenbahnen fließt, bringt nach dieser Rechnung einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen von drei Euro. Diese positive Bilanz entsteht durch direkte und indirekte Effekte, die weit über die Branche hinausreichen. Direkt schafft der ÖPNV Arbeitsplätze in Verkehrsunternehmen, bei Verkehrsverbünden und kommunalen Betrieben. Das Einkommen der Beschäftigten fließt zurück in den Konsum – in den Einzelhandel, in Dienstleistungen, in das lokale Gewerbe. Damit verstärkt der ÖPNV seine eigene ökonomische Wirkung. Indirekt profitieren auch Zulieferer- und Dienstleisterbetriebe vom ÖPNV – vom Fahrzeugbau über Energieversorger bis hin zu IT-Unternehmen und Wartungsbetrieben. Allein durch die Herstellung und Instandhaltung von Fahrzeugen, Schienen oder Ticketsystemen entstehen bundesweit Tausende von Arbeitsplätzen entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
Milan Nicolai Favier, Referent für Verkehr, Mobilität und Logistik der IHK zu Kiel
Modell mit Vorbildcharakter: SMILE24
Dass der Nahverkehr ein eminent wichtiges Thema für die Wirtschaft ist, das ist auch die Erfahrung von Dr. Arne Beck, Geschäftsführer von NAH.SH. „Er ist eine der Triebfedern unserer Wirtschaft“, betont er. „Mit der öffentlichen Mobilität ermöglichen wir für die Mitarbeiter*innen eine sichere Verbindung zum Arbeitsplatz – und das von früh bis spät. Der Schienenpersonennahverkehr fährt von 4 Uhr morgens bis 24 Uhr nachts auf nahezu allen Bahnstrecken des Landes. Damit ist auch eine Bedienung der Schichtzeiten möglich.“ Die NAH.SH koordiniert und entwickelt die öffentliche Mobilität im nördlichsten Bundesland nachhaltig weiter, indem sie den öffentlichen Personennahverkehr plant, organisiert und abwickelt. In einem Flächenland wie Schleswig-Holstein ist das eine komplexe Aufgabe, die immer wieder innovative Lösungen erfordert. Eine davon ist SMILE24. Das Pilotprojekt hat NAH.SH 2023 gemeinsam mit den Kreisen Schleswig-Flensburg und Rendsburg-Eckernförde auf den Weg gebracht. Das Ziel: Bewohner*innen und Tourist*innen sollen mit einem Angebot an verschiedenen Verkehrsmitteln rund um die Uhr mobil sein – ganz ohne eigenes Auto, aber mit On-Demand-Verkehren (ODV) und Car- sowie Bike-sharing- Angeboten.
Das Fazit von SMILE24 fällt nach zwei Jahren Laufzeit überaus positiv aus: Im Vergleich zum Betriebsjahr vor SMILE24 konnten die Fahrgastzahlen – Stand Juni 2025 – in Bus, ODV und Sharing um über 50 Prozent gesteigert werden. „Mit diesem innovativen Angebot wird der ÖPNV alltagstauglich. Busse und On-Demand-Verkehre sind für mehr als 90 Prozent der Einwohnerschaft in den beiden Regionen nahezu rund um die Uhr mit wenig Aufwand erreichbar“, so Dr. Beck. Durch die On- Demand-Verkehre, das sogenannte NAH.SHUTTLE, bietet SMILE24 auch zahlreichen Menschen erstmals einen Zugang zum Nahverkehr, vor allem außerhalb der Hauptverkehrszeit. Für mittlerweile gut 5.000 Fahrten pro Woche nutzen die Menschen dieses Angebot. „Wir müssen immer besser werden und wir müssen schneller besser werden. Ich würde mir dabei wünschen, dass öffentlicher Personennahverkehr nicht nur aus der Sicht des Busses oder der Bahn gedacht wird, sondern aus Sicht der Menschen. Und die Menschen wollen von A nach B. Sie interessiert nicht im ersten Schritt, ob sie mit Bus oder mit Bahn fahren. Sie interessiert, ob sie überhaupt von A nach B kommen können. Mit unserem Modellprojekt in Schleswig-Flensburg und Rendsburg-Eckernförde haben wir darauf eine überzeugende Antwort gefunden“, erklärt der NAH.SH-Geschäftsführer.
Dr. Arne Beck, Geschäftsführer von NAH.SH
Immer mehr Pendler* innen
Wie bedeutsam der ÖPNV für Arbeitnehmer*innen und damit auch für die Unternehmen ist, zeigt ein weiteres Ergebnis der MCube-Studie: Demnach entfällt mehr als ein Viertel der gesamten Wertschöpfung des ÖPNV allein auf den sogenannten Pendler-Effekt. Nach einer im Oktober 2025 veröffentlichten Erhebung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) nimmt die Zahl der Pendler*innen weiter zu, was unter anderem mit den steigenden Wohnkosten in den urbanen Zentren zu tun hat. Die Verbindung zwischen Arbeit und Wohnort ermöglicht Millionen von Menschen Mobilität und Beschäftigung – wie zum Beispiel für den Preetzer Stefan Oberschelp auf dem Weg zu seinem Arbeitgeber e-nema und zurück. Bis vor Kurzem ist er von Preetz mit der Bahn nach Raisdorf und von dort weiter mit dem Bus nach Schwentinental gefahren. Aufgrund einer Baustelle ist diese Verbindung zurzeit nicht möglich, der Sales-Manager nimmt daher direkt in der Schusterstadt den Bus. Aber sein Beispiel zeigt: Auch wenn manch eine Baustelle noch zu stemmen ist – der Wirtschaftsmotor Nahverkehr brummt.
Interview mit Landrätin Elfi Heesch
„Guter ÖPNV schafft Lebensqualität und Wirtschaftsstärke“
Der Kreis Pinneberg liegt in der dynamischen Metropolregion Hamburg. Es ist der bevölkerungsstärkste Kreis des Landes mit großen Pendlerströmen. Im Interview mit los! spricht die Pinneberger Landrätin Elfi Heesch über die Bedeutung des Nahverkehrs für die Unternehmen und die Menschen.
Frau Landrätin Heesch, wie fahren Sie zur Arbeit?
Ich nutze die Bahn in Kombination mit dem Fahrrad. 2024 habe ich so knapp 10.400 Kilometer von insgesamt 12.400 dienstlichen Kilometern zurückgelegt. Dadurch habe ich fast 70 Prozent CO₂ eingespart im Vergleich zu den Emissionen, die ich auf der gesamten Strecke mit einem Verbrenner-Auto verursacht hätte.
Wie viele Menschen pendeln täglich im Kreis Pinneberg ein und aus?
Wir verzeichnen sehr große Pendlerströme vor allem nach und aus Hamburg. So sind in 2024 aus der Gruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten – das ist die größte Pendlergruppe – rund 77.000 Menschen aus dem Kreis Pinneberg ausgependelt und etwa 37.000 Menschen in den Kreis zur Arbeit eingependelt. 30 Prozent nutzen dafür Bus und Bahn.
Kann ein attraktiver ÖPNV Unternehmen helfen, Fachkräfte zu gewinnen?
Eine gute Anbindung erhöht die Konkurrenzfähigkeit eines Betriebs auf dem Arbeitsmarkt. Das ist das entscheidende Argument für Unternehmen, ihren Beschäftigten rabattierte Jobtickets anzubieten. Im Dialog mit der Wirtschaft ist die Weiterentwicklung des Nahverkehrs im Kreis Pinneberg daher bei uns immer ein wichtiges Thema.
Was heißt das in der Praxis?
Mit unserem regionalen Nahverkehrsplan, den wir gemeinsam mit den Kreisen Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg aufgestellt haben, setzen wir uns ambitionierte Ziele. Wir wollen dafür sorgen, dass noch mehr Menschen die Angebote des ÖPNV nutzen. Das geht nur über Ausbau und attraktive Angebote. Außerdem wollen wir den öffentlichen Busverkehr bis 2032 vollständig emissionsfrei machen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Ausbau des Schienenverkehrs, insbesondere der zwischen Elmshorn und Pinneberg. Da sind große Infrastrukturprojekte in Vorplanung. Allerdings darf die bauliche Umsetzung nicht weiter in die Zukunft verschoben werden.
Apropos Zukunft: Wo liegt da der Knackpunkt?
Fakt ist: Der ÖPNV ist neben seiner Bedeutung für die Wirtschaft ein entscheidender Faktor für Klimaschutz und Mobilitätswende. Gleichzeitig ist er als Gesamtsystem unterfinanziert. Der Bund stattet die Länder mit Finanzmitteln aus. Diese sind – auch angesichts der Kostenentwicklung im ÖPNV – nicht ausreichend. Das sind strukturelle Probleme, die dringend gelöst werden müssen.
Interview mit Landrätin Elfi Heesch
„Guter ÖPNV schafft Lebensqualität und Wirtschaftsstärke“