Moritz Dietzsch, 28 Jahre, aus Kiel

Kurzurlaub in zwei Stunden

Als ich vor knapp zehn Jahren aus Frankfurt zum Studieren nach Kiel kam, war es bereits September. Im Norden fängt es dann ja schon recht schnell an, etwas ungemütlicher zu werden, besonders wenn man die feuchte Kälte des Meeres nicht so gewohnt ist. Ausflüge raus aus meinem Viertel habe ich deshalb eigentlich erst im Frühling unternommen. Eines Tages kam mein bester Kumpel aus Frankfurt zu Besuch und wollte etwas Norddeutsches erleben. Wir fuhren mit den Fahrrädern an den nördlichen Stadtrand Richtung Schleuse. Ich hatte gehört, dass da eine kleine Fähre den Nord-Ostsee-Kanal queren soll – kostenlos. Der Ort erwies sich als Glücksfall. Schon die Überfahrt mit der Adler 1 zwischen riesigen Schiffen hindurch war etwas ganz Besonderes. Und das empfinde ich auch heute noch so. Durch meine Arbeit als Reste- Ritter bleibt mir oft nicht viel Zeit für lange Ausflüge. Aber mal eben mit der Fähre fahren, sich dabei den Kopf freipusten lassen und vielleicht noch am Tiessenkai mit Blick auf die vor Anker liegenden Traditionssegler in einem der kleinen Cafés einen Kakao trinken: Das ist wie ein Kurzurlaub in zwei Stunden.
Bei flüchtiger Betrachtung mag das Ufer vielleicht etwas unscheinbar wirken, aber es hat für mich alles, was Kiel und vielleicht sogar das Kieler Lebensgefühl ausmacht: die Einbindung der Schifffahrt in das tägliche Leben, viel Wind und noch mehr Wetter, das Nebeneinander von Stadt und Land und das Wasser als Lebens- und Wirtschaftsraum. Wenn wir im Spätsommer mit den ResteRittern die vergessenen Apfel- und Birnbäume entlang des Kanals abernten, während wenige Meter neben uns gewaltige Containerschiffe Obst aus Übersee für die Supermärkte transportieren, dann kommen sich globales Problem und lokale Lösung für einen Moment sehr nahe. Für mich ist dieser Ort auch einer, der Hoffnung macht. Hier ist vielleicht nicht alles perfekt und sauber, manches ist verbaut und etwas verkorkst, aber trotzdem liegt er uns Kieler*innen am Herzen. Und wir versuchen ihn Stück für Stück zu verbessern. Auch das macht diesen Ort und den Kieler Geist aus.

Der gebürtige Frankfurter ist Mitbegründer der Reste- Ritter. Seit 2017 engagiert sich das Unternehmen gegen Lebensmittelverschwendung und für einen bewussteren Umgang mit Lebensmitteln, indem es sie vor der Mülltonne rettet, nachhaltig verwertet und einen guten Teil der Erlöse gemeinnützigen und sozialen Zwecken zuführt.
www.resteritter.de