Der Norden kann sich auch von unten sehen lassen

Hamburgs Unterwelt ist legendär. Tatsächlich hat die Hasestadt auch unter der Oberfläche viel zu bieten. Bunker, Tunnel und Katakomben bilden das unterirdische Gedächtnis vergangener Zeiten. los! Autorin Tina Ott erkundet die bewegte Geschichte des Tiefbunkers unter dem Hauptbahnhof.

Keine deutsche Stadt hat im Zweiten Weltkrieg mehr Bunker gebaut als Hamburg, über tausend Anlagen waren es bei Kriegsende. Dass solche Mahnmale der Geschichte nicht in Vergessenheit geraten, sondern weiter Licht ins Dunkel der Vergangenheit gebracht wird, dafür setzen sich die rund hundert Mitglieder des Vereins Hamburger Unterwelten e. V. ehrenamtlich ein. So wie René Rühmann und Sandra Latussek, beide Anfang 40. Sie führen uns durch den Tiefbunker Steintorwall, im Volksmund auch bekannt als „Atombunker unterm Hauptbahnhof“, obwohl dieser sich genau genommen nicht unmittelbar darunter, sondern davor befindet. Für unseren Ausflug in die Geschichte ist der Standort natürlich ideal: Mit dem Nahverkehr ist Hamburgs Hauptbahnhof von jeder Stadt in Schleswig-Holstein gut zu erreichen und vom Bahnsteig zum Treffpunkt sind es gerade mal 45 Sekunden Fußweg.

„Während des Zweiten Weltkrieges suchten im Tiefbunker Steintorwall täglich bis zu 5.000 Menschen Schutz vor Luftangriffen.“

Verborgene Seiten der Hansestadt
Für die über 30 Teilnehmer der Bunker-Tour geht es auf demselben Weg ins Innere der Anlage, der auch für den Ernstfall vorgesehen war. Da sich an unserem Besichtigungstag der Jahrhundertsommer 2018 noch einmal besonders ins Zeug legt, ist der Besuch im Tiefbunker zunächst einmal angenehm erfrischend, auch wenn der leicht muffige Geruch Erinnerungen an den ersten WG-Keller wachruft. Zum zugegebenermaßen nur sprichwörtlichen Warmwerden – wir streifen jetzt doch mal lieber die  Jacke über – startet René Rühmann mit den Sicherheitshinweisen: „Bitte keine Hebel, Knöpfe oder Schalterbetätigen, ist alles noch funktionstüchtig! Und nicht den Kopf stoßen!“ Rühmann hat sich schon als Kind für unterirdische Bauten interessiert – von den Katakomben des Schulgebäudes bis zum damaligen Bau des Elbtunnels. 2011 ist er dem Verein Hamburger Unterwelten e.V. beigetreten, fasziniert davon, Orte zu erforschen, an die sonst niemand gelangt, und die gesammelten Erkenntnisse akribisch zu archivieren. Sein Vortrag gibt auch uns die Gelegenheit, noch tiefer in die unterirdischen Geheimnisse der Stadt einzusteigen. Schon nach zwei, drei Sätzen wird klar, dass es bei allem Respekt vor der Geschichte dieses Bauwerks nicht staubtrocken zugehen muss. Es gibt sogar erstaunlich viel zu schmunzeln! So präsentiert René Rühmann diverse Slogans und Wegweiser aus einer Zeit, als die atomare Bedrohung allgegenwärtig war: „Allein gegen die Bombe“, „Der kluge Mann baut tief“, „Wo bitte geht’s zu meinem Bunker?“ oder „Jeder hat eine Chance“ und – etwas weniger optimistisch – „Hat jeder eine Chance?“ … Es sind heute fast kalauerhaft wirkende Auszüge aus Ratgebern und Informationsblättern, mit denen die Behörden zu Zeiten des Kalten Krieges die Bevölkerung für einen Atomangriff rüsten wollten.

Wir erfahren auch eine Menge Fakten: Unter den Begriff Bunker fallen generell alle Gebäude, die darauf ausgelegt sind, einem Bombenangriff standzuhalten. Daher finden sich in Hamburg auch viele überirdische Bunker, der größte ist der Hochbunker an der Feldstraße auf St. Pauli. „Unser“ Bunker wurde 1941 bis 1944 als dreistöckiger Luftschutzbunker vor allem für Bahngäste auf der Durchreise erbaut. Der 2.700 Quadratmeter große Komplex mit seinen 3,75 Meter dicken Betonwänden war für 2.460 Menschen angelegt. Genutzt haben ihn im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges aber 5.000 Menschen. Jeden Tag! Nur wenige Bunker Hamburgs konnten so viele Menschen aufnehmen. Nach Kriegsende fiel er in einen Dornröschenschlaf, denn wegen seiner unmittelbaren Nähe zum Bahnhof konnte er nicht abgerissen werden. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges rund um die Kubakrise 1962 erlebte die Idee von Schutzräumen für die Zivilbevölkerung eine Renaissance. Auch der Tiefbunker Steintorwall wurde zwischen 1965 und 1969 saniert und mit Drucklufttüren, Lüftungs-, Notstrom- und anderen Versorgungsanlagen ausgestattet, die es heute noch zu bestaunen gibt. Nun bot er 2.702 Plätze, dennoch hätten darin bei einem Atomkrieg nur 4,7 Prozent der Hamburger Bevölkerung Schutz gefunden.

„Ende der sechziger Jahre hätten bei einem Atomangriff 2.700 Menschen Platz im Bunker gefunden.“

Überleben in zehn Metern Tiefe
Während der Führung gewinnen wir einen Eindruck davon, wie das Leben im Schutzraum während des Zweiten Weltkrieges gewesen ist oder im Fall eines Atomkrieges gewesen wäre – und es wird mit anschaulichen Beispielen vermittelt, wie es sich in etwa anfühlen muss, wenn es tatsächlich ums Überleben geht, während zehn Meter über unseren Köpfen die Welt untergeht. Die Tour führt uns durch bis zu 80 Meter lange Gänge und in viele der insgesamt 150 Räume. Sie ist reich gespickt mit interessanten Erläuterungen zu medizinischer Versorgung, sanitären Anlagen und dem Kontakt zur Außenwelt, aber auch mit der einen oder anderen Anekdote. So haben sich Kunststudenten hier vor einigen Jahren 48 Stunden einschließen lassen, um im Selbstversuch zu rekonstruieren, was für psychische und physische Veränderungen in einer solchen Extremsituation in einem vorgehen. Auch Dreharbeiten haben hier bereits stattgefunden. „Für historische Dokumentationen befürworten wir das“, sagt Sandra Latussek, „nicht aber für Kochshows. Das ist ein Ort des Respekts. Hier haben Menschen vieles, oft sogar alles verloren.“ Während ihres Architekturstudiums ist sie auf den Verein Hamburger Unterwelten e. V. gestoßen, hat eine Bunkerführung als Gast besucht und war so begeistert von der Thematik und den Ehrenamtlichen, dass sie selbst Mitglied geworden ist. „Heute bin ich sozusagen die Geschäftsstelle des Vereins.“

„Der Bunker ist ein Ort des Respekts.
Hier haben Menschen vieles, oft sogar alles verloren.“

Sandra Latussek hat sich in den letzten Jahren mit vielen unterirdischen Anlagen, auch in Schleswig-Holstein, vertraut gemacht. Immer wieder werden neue Schutzräume entdeckt, die weitere Erkenntnisse bringen. Auf die Frage nach Mythen und Legenden rund um den Bunker am Steintorwall winkt sie lächelnd ab: „Also Geister gibt es hier nicht! Abgesehen von den Geistern der Vergangenheit, die immer dann zum Leben erweckt werden, wenn uns Zeitzeugen hier besuchen. Detailerinnerungen können die Betroffenen heute noch zutiefst erschüttern – das geht auch an uns nicht spurlos vorbei.“ Zu den häufigsten Fragen, die während einer Bunker-Tour gestellt werden, gehöre zweifellos, ob der Bunker wohl eines Tages noch einmal zum Einsatz kommen wird. „Sicher nicht“, betont Latussek, „er könnte heutigen Waffensystemen nichts mehr entgegensetzen.“ So haben die Behörden vor etwas mehr als zehn Jahren das Konzept der öffentlichen Schutzräume bundesweit aufgegeben – und damit auch die Instandhaltung der Anlagen. Seither kümmern sich Vereine wie Hamburger Unterwelten e.V. nach Kräften darum, dass uns dieser historische Schatz erhalten bleibt. Nach genau hundert lehrreichen und unterhaltsamen Minuten hat uns Hamburgs Sonne wieder. Aber es wird mit Sicherheit nicht unser einziger Ausflug in die spannenden Welten unter unseren Füßen bleiben.

„Geister gibt es hier nicht! Abgesehen von den Geistern der Vergangenheit, die immer dann zum Leben erweckt werden, wenn uns Zeitzeugen hier besuchen.“

5 Tips für den Ausflug unter die Erde

1. Für die Jüngsten: Zum Tiefbunker Steintorwall gibt es auch spezielle Kinderführungen. Reguläre Touren sind erst ab zwölf Jahren geeignet, da der Vortrag historisch anspruchsvoll ist. Buchung von Führungen nur über das Web-Formular auf der Homepage des Vereins
2. Fiffi muss zuhause bleiben: Tiere sind im Bunker nicht erlaubt.
3. Jacke nicht vergessen! Im Bunker herrscht eine Durchschnittstemperatur von zwölf Grad.
4. Allergiker aufgepasst: Reste von Schimmelbefall sind in dem historischen Gemäuer nicht auszuschließen.
5. Kunst und Kultur im Bunker: Es finden immer wieder Lesungen, Theateraufführungen, Ausstellungen, Filmvorführungen, Konzerte im Bunker statt. Alle Infos dazu sowie Führungstermine, Preise, Treffpunkte und vieles mehr unter www.hamburgerunterwelten.de

Kontakte zur Unterwelt im Norden“

Hamburger Unterwelten e.V.

T. 040.20 933 864
info@hamburgerunterwelten.de
www.hamburgerunterwelten.de

unter hamburg e.V.

Zu dem Verein gehört auch die Projektgruppe „unter schleswig-holstein“, die sich der unterirdischen Geschichte des Landes widmet, u.a. drei Stationen in Flensburg: die MZA Rathaus-Garage und die beiden Regierungsbunker Sankelmark und Lindewitt.

T.040.68 267 560
info@unter-hamburg.de
www.unter-hamburg.de