Bahnhöfe als Orte der Erinnerung und Mahnung

Der Brief der ersten großen Liebe, das Gruppenfoto anlässlich eines Abschlusses, die Zeichnung aus dem Urlaub – wir alle knüpfen unsere Erlebnisse an Dinge, die dadurch oftmals wertvoller sind als alles Geld der Welt. Ebenso kostbar sind Orte und gemeinsame Erinnerungen, die damit verbunden sind. Sie einen uns, weil wir sie teilen – innerhalb unserer Familien, mit unseren Freund*innen, aber auch als Gesellschaft. Ein bedeutender Ort ist zum Beispiel das Brandenburger Tor in Berlin, das zu einem Symbol für die deutsche Teilung und Wiedervereinigung geworden ist. Nur fünf Minuten Fußweg entfernt liegt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Heute gibt es nur noch wenige Zeitzeug*innen. Umso wichtiger ist dieser Ort, denn er mahnt, die Erinnerung an die mehr als sechs Millionen Menschen wachzuhalten, die den Holocaust nicht überlebt haben. Sie liefen durch dieselben Straßen, schauten auf dasselbe Meer, standen am selben Bahnsteig wie wir heute. Auch von unseren Bahnhöfen in Schleswig-Holstein aus wurden viele Menschen deportiert. Neben Jüdinnen und Juden waren es Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und viele mehr, die nicht dem menschenverachtenden Weltbild der Nationalsozialisten entsprachen oder dagegen kämpften. Für sie war der Bahnhof eine Station auf einer unvorstellbar leidvollen Reise, von der viele nicht zurückkehrten. Die los! trifft Menschen, die von dieser Reise erzählen – und davon, wie wichtig es ist, diese Bahnhöfe als Erinnerungsorte zu begreifen.

Drei Personen stehen draußen vor einer Wand mit vertikalen Schildern. Sie tragen Freizeitkleidung. Im Hintergrund sind Bäume sichtbar.

Laura, Amira und Emy (linke Seite, v. l. n. r.) engagieren sich in ihrer Schule für das Mahnmal am ehemaligen Bahnhof Harrislee.

Die ergreifende Musik ist bis nach Dänemark zu hören, so nah verläuft die Grenze nach Deutschland, von wo aus die Klänge Ende Januar dieses Jahres abgespielt werden. Anlass ist der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee, zu dem sich Politiker*innen, Bürger*innen und Schüler*innen der dänischen Duborg-Skolen in Flensburg und der Zentralschule Harrislee am Bahnhof Harrislee eingefunden haben. Dort steht ein Mahnmal, das an die Deportationen aus dieser Region erinnert. Berührend ist die sanft abnehmende Lautstärke der Musik, die die Schüler*innen der Zentralschule eigens für diese von ihnen ausgerichtete Gedenkfeier komponierten. Es ist ein akustisches Symbol für in der Ferne leiser werdende Deportationszüge. Die Melodien werden abgelöst durch selbst verfasste Gedichte, sie erinnern insbesondere an die etwa 1.600 dänischen Gefangenen aus dem nahe gelegenen Internierungslager in Frøslev. Sie wurden von hier aus in das Konzentrationslager Neuengamme nahe Hamburg verschleppt. Musik, Gedichte und Vorträge der Schüler*innen richten den Blick jedoch nicht allein auf das Vergangene – sie fordern ebenso einen Blick auf die Gegenwart und Zukunft, denn sie drücken den Wunsch nach Frieden, Menschlichkeit und Gerechtigkeit aus.

„Unsere Sorge um die Zukunft ist extrem. Der immer stärker werdende Rechtsruck macht Angst. Wir können nicht sagen, er beträfe uns nicht. Wir sehen ja, was gerade in den USA passiert“, sagen Emy (16), Laura (16) und Amira (17), als wir sie ein halbes Jahr nach der Gedenkveranstaltung am Mahnmal treffen. „Wir wollten ein Zeichen setzen! Zwei Wochen lang haben wir uns intensiv mit den damaligen Geschehnissen beschäftigt und eigenständig eine Inszenierung zur Gedenkfeier mit unseren beiden 10. Klassen entwickelt. Auch wenn es ein trauriges Thema war und es vielleicht unpassend klingt: Es hat Spaß gemacht und wir waren persönlich berührt. So hatte es eine viel krassere Wirkung, als wenn uns die älteren Generationen „nur“ davon erzählt hätten. Bei denen, die vorher Witze gerissen haben über das Thema, hat man richtig gemerkt, wie sich da etwas entwickelt hat.“ Festgestellt haben die drei aber auch, dass manche Schüler*innen und andere Menschen in ihrem Umfeld kaum mehr erreichbar sind. „Die haben einen Tunnelblick, hinterfragen aber auch nichts. Manchmal braucht es nur eine Minute, um festzustellen, dass die Behauptungen Rechtsextremer auf Social Media einfach nicht wahr sind. Stattdessen geben sie ein Like und es hagelt haufenweise weiterer solcher Posts. So werden sie in die rechte Filterblase hineingesogen.“

Fahrräder stehen auf gepflastertem Platz vor einem großen roten Backsteingebäude mit grüner Überdachung. Menschen gehen hinein und hinaus.
Denkmal mit vier vertikalen Holzstämmen auf einem Ziegelpodest, umgeben von Bäumen und Rasen, im Hintergrund eine rostfarbene Metallwand

Mahnmal am ehemaligen Bahnhof Harrislee (links). Die Fahnen vor dem Bahnhof Lübeck sind Teil des dortigen Mahnmals (rechts).

1998 wurde das Mahnmal Bahnhof Harrislee eingeweiht. Es ging aus einem gemeinsamen Schülerwettbewerb der Duborg-Skolen und der Zentralschule Harrislee hervor. Seitdem besteht ein enges Band zwischen beiden Schulen, die abwechselnd die Gedenkfeier ausrichten. Einen richtigen Bahnhof findet man hier nicht mehr. Einst war es auch nur eine kleine Bahnstation, auf die die Nazis ausweichen mussten, denn dänische Eisenbahner verhinderten den Transport der Gefangenen vom Padborger Bahnhof aus. „Wir wussten nichts von dem Mahnmal, es ist nicht automatisch im Bewusstsein der Leute. Erst als wir darüber sprachen, wurde es zu einem lebendigen Ort. Die Gespräche haben wir aber nicht nur in der Schule geführt, sondern auch mit Freund*innen und Familie, wir haben sie informiert und darüber diskutiert“, berichten die drei Schülerinnen. Begleitet werden sie durch den stellvertretenden Schulleiter Philipp Brunckhorst, der ihren Erkenntnissen anerkennend zustimmt. Und er fügt hinzu: „Als Schule ist es uns trotz Lehrkräftemangel und Stundenkürzungen wichtig, solch einem Projekt regelmäßig den nötigen Raum zu geben, damit Schüler*innen sich selbst ein Bild machen können und eine Haltung entwickeln – denn die ist am Ende deutlich mehr wert als der Mathe-Schnitt!“

„Unsere Sorge um die Zukunft ist extrem. Der Rechtsruck macht Angst.“
Laura, Amira und Emy, Schülerinnen der Zentralschule Harrislee

Weiße Fahnen mit Aufschriften wehen vor blauem Himmel. Ein Gebäude mit Giebeldach ist im Hintergrund zu sehen.

Das Mahnmal am Bahnhof Lübeck entstand 2013 auf Initiative der Lübecker Bürgerschaft.

Am Lübecker Bahnhof wehen Handschriften im Wind – von Menschen, die von dort aus deportiert wurden. Groß aufgedruckt auf zwei Fahnen lesen wir „vollständig isoliert“ und „inmitten der übrigen“. Es sind Zitate aus Abschiedsbriefen und Nachrichtenzetteln, die aus Konzentrationslagern geschmuggelt wurden. Eine dritte Fahne ordnet mit ihrer Aufschrift den Kontext ein: PLATZ DER DEPORTIERTEN MENSCHENWÜRDE. „Im Gegensatz zu den Handschriften ist diese Schrift eine Druckschrift, sie verweist auf die politische Situation der Normierung. Individualität wurde bekämpft, die Menschen wurden willkürlich sortiert, ausgegrenzt, erniedrigt, ermordet“, erläutert Ute Friederike Jürß. Sie ist die Künstlerin hinter dem Mahnmal „Vor den Augen aller“, das im Dezember 2013 auf Initiative der Lübecker Bürgerschaft eingeweiht wurde.

„Das Mahnmal ist nicht automatisch im Bewusstsein der Leute. Erst als wir darüber sprachen, wurde es zu einem lebendigen Ort.“
Emy, Laura und Amira, Schülerinnen der Zentralschule Harrislee

Die Zitate werden zu Gedenktagen ausgetauscht. Durch das Wechseln der Fahnen kommen mehrere Menschen zu Wort. Doch nicht allein dadurch bleiben sie in Erinnerung: In Schulprojekten zu diesem Thema erlebte Ute Friederike Jürß eine große Offenheit von jungen Menschen. „Die Reaktionen der Jugendlichen waren stark und direkt, insbesondere im emotionalen Zugang. Es gab immer wieder die Frage: Wie hätte ich damals gehandelt, vor den Augen aller, und wie würde ich heute handeln?“ Die Anteilnahme an den Schicksalen stellt sie auch direkt am Mahnmal fest. „Menschen zünden Kerzen an, sie binden Blumen an die Masten. Die Mitarbeiter*innen des DB ServicePoint gehen aktiv auf die Menschen zu, die Interesse an der Fahnen-Installation zeigen. Sie erklären es ihnen, versorgen sie mit Infomaterial. Zudem haben die Leute der Bahnhofsmission immer ein Auge darauf, ob auch alles in Ordnung ist. Sie alle kümmern sich liebevoll darum, sie haben das Mahnmal adoptiert“.

Skulptur aus Silhouetten von Menschen vor einem modernen Gebäude mit Glasfassade und roten Strukturen.

Auch vor dem Bahnhof Bad Oldesloe erinnert ein Denkmal an die Deportierten.

„Wir sind nicht dafür verantwortlich, was damals passierte, aber wir sind dafür verantwortlich, was heute passiert.“
Ute Friederike Jürß, Künstlerin

Doch es mahnt nicht nur das Vergangene – „Vor den Augen aller“ ist ein brandaktuelles Zeichen. „Man kann es sehen, man kann aber auch daran vorbeigehen. Doch wer es sehen möchte, sieht es“, sagt die Künstlerin und spannt den Bogen zum Heute: „Wir sind nicht dafür verantwortlich, was damals passierte, aber wir sind dafür verantwortlich, was heute passiert!“ Im Jahr 2015 war der Bahnhof erneut im Fokus. Etwa 20.000 Geflüchtete gelangten über ihn nach Skandinavien. Auf die Willkommenskultur folgte Pegida, heute sitzt die AfD stimmgewaltig im Bundestag – eine Partei, die die Verfolgung und Vertreibung von Migrant*innen zum Ziel hat. Ute Friederike Jürß betont: „Wir müssen unsere Demokratie nicht mehr nur schützen, wir müssen sie verteidigen!“

„Wir haben eine Krise des ‚Nie wieder!‘“

Interview mit Heino Schomaker, Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein, und Dr. Harald Schmid, Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten.

Was für eine Bedeutung hatten die Bahnhöfe in Schleswig-Holstein während der NS-Zeit?

Dr. Schmid: Mit Blick auf die nationalsozialistische Verfolgungspolitik sticht vor allem ihre Funktion als Orte der Deportation ins Auge, wie sie von den Bahnhöfen in Kiel, Lübeck, Bad Oldesloe und Harrislee ausgingen. Bahnhöfe dienten aber nicht nur als Abfahrts-, sondern auch als Ankunftsort, etwa für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen. Und man kann sie auch als Orte der Herrschaftsrepräsentation verstehen, wenn sich der Diktator dem Volk zeigte, beispielsweise am 30. Mai 1936 am Kieler Hauptbahnhof zur Einweihung des Marine-Ehrenmals in Laboe tags darauf. Benötigt wurden sie auch für den Truppen- und Materialtransport. Seit Beginn der Deportationen kam es deshalb zu Konflikten um logistische Ressourcen zwischen Wehrmacht und NS-Behörden. Militärische Erfordernisse des Nachschubs wurden dabei mitunter den rassenideologischen Zielen untergeordnet, weshalb die Züge immer wieder vorrangig zur Deportation genutzt wurden.

Heino Schomaker mit Hut lehnt an einer Holzwand, trägt ein kariertes Hemd und lächelt. Im Hintergrund ist ein Weg mit Pflanzen zu sehen.

Heino Schomaker ist Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein e. V.
Weitere Infos: www.lag-gedenkstaetten-sh.de

Welche Bedeutung haben Bahnhöfe heute in der Erinnerungskultur?

H. Schomaker: An den eingangs erwähnten Bahnhöfen in Schleswig-Holstein findet heute Erinnerungsarbeit über Mahnmale und Gedenktafeln statt. Deutschlandweit zeigt sich ihre zunehmende Bedeutung als Erinnerungsorte auch über das Förderprogramm „MemoRails: Halt! Hier wird an NS-Geschichte erinnert“ des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, das von der Deutschen Bahn unterstützt wird. Doch Besuche von Bahnhöfen, Gedenkstätten und Erinnerungsorten können oft nur erste Impulse für die Auseinandersetzung mit der Naziherrschaft geben. Über begleitende und vertiefende Nachbereitung und die Herstellung von Gegenwartsbezügen müssen gerade junge Menschen Orientierungsmöglichkeiten für aktuelle Herausforderungen erhalten.

Dr. Harald Schmidt in rotem Hemd lächelt vor einem Bücherregal.

Historiker Dr. Harald Schmid

Warum ist es wichtig zu erinnern?

Dr. Schmid: In der öffentlichen Diskussion ist eine Krise des „Nie wieder!“ unübersehbar. Der Aspekt „Nie wieder Krieg!“ ist spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine brüchig geworden. Und auch die kategorische Forderung „Nie wieder Völkermord!“ verliert angesichts der Wiederkehr von Genoziden Orientierungskraft. Die Debatten in der Politik scheinen geschichtsvergessen, die historischen Analysen haben heute zusehends geringere Verbindlichkeit. Stattdessen fordert die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte AfD eine Wende von 180 Grad in der Erinnerungspolitik. Solche Aussagen sind der Nährboden für rechtsextreme Angriffe auf Gedenkstätten. Dabei sprechen wir nicht nur von Schmierereien, mitunter geht es auch um massive Beschädigungen, beispielsweise um herausgerissene Gedenkplatten. Doch das zeigt im Umkehrschluss auch, welche Relevanz diese Orte haben!

Die Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten fördert Einrichtungen und Projekte, auch aus der Zivilgesellschaft, welche sich dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus widmen.
Mehr dazu unter www.gedenkstaetten-sh.de