So wie in dieser 3D-Computergrafik soll die Stadtbahn in Zukunft durch Kiel fahren

Die Renaissance der Straßenbahn

Von den 1880er Jahren bis weit in die Nachkriegszeit war die Straßenbahn in den drei größten Städten Schleswig-Holsteins ein selbstverständliches Verkehrsmittel. Ihr Abgesang begann – wenn auch anfangs noch leise – mit der „autogerechten Stadt“. 1959 kam dieses Schlagwort auf und es führte dazu, dass sich Stadt- und Verkehrsplanung immer stärker auf den enorm wachsenden Autoverkehr ausrichteten. Die Gleise wurden von vielen Autofahrer*innen eher als Hindernis empfunden, „Freie Fahrt für freie Bürger“ war in aller Munde und die Städte investierten kaum noch in Straßenbahnnetze. Nach und nach stellten die Verkehrsgesellschaften den Straßenbahnbetrieb ein, 1959 in Lübeck, 1973 in Flensburg und schließlich 1985 in Kiel. Während bei uns im Norden die letzte Straßenbahn abgewickelt wurde, zeichnete sich europaweit längst eine Trendwende ab. Es wirkt wie ein ironischer Zufall: Als in der Landeshauptstadt zum letzten Mal die Wagen der Linie 4 klingelnd und in den Kurven kreischend über die schon etwas maroden Gleise ruckelten, eröffnete zeitgleich in Nantes, tief im Westen Frankreichs, eine neue Straßenbahnstrecke. Mittlerweile feiert die Tram aber auch in Schleswig- Holstein ein Comeback. Über die Renaissance der Straßenbahn hat die los! mit Verkehrsexpert*innen in Kiel und Lübeck gesprochen.

Vorbild Frankreich: Trams wie hier in Le Havre steigern die ÖPNV-Nutzung massiv

„Wir prüfen hier ergebnisoffen das
Potenzial eines Tramsystems.“

Michael Stödter, Verkehrswendebeauftragter der Hansestadt Lübeck

Zuerst treffen wir uns mit Michael Stödter. Der Verkehrswendebeauftragte der Hansestadt Lübeck empfängt uns in einem Büro, dessen Wände mit Statistiken und Liniennetzen gepflastert sind. In Lübeck läuft gerade eine Potenzialanalyse. Von unabhängigen Expert*innen wird dabei geprüft, ob eine Straßenbahn am besten dem ehrgeizigen Ziel der Lübecker Bürgerschaft nützt: den Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs auf den Hauptverkehrswegen in der Stadt von derzeit etwa 11 bis 12 auf künftig 20 Prozent anzuheben. Das ist mit dem derzeitigen Bussystem wahrscheinlich nur sehr schwer möglich. „Wir brauchen einen ÖPNV, den auch Menschen nutzen, die sich ebenso gut für das Auto entscheiden können. Und diese sogenannten wahlfreien Fahrgäste steigen, das zeigt die Erfahrung in vielen anderen Städten, besonders gern in die Straßenbahn.“ Das heißt natürlich nicht, dass das unbedingt auch für Lübeck gelten muss. Deshalb betont Michael Stödter: „Wir prüfen hier ergebnisoffen.“

Trotzdem hat es natürlich Gründe, warum in immer mehr Städten Europas die Straßenbahn zum Shootingstar der Verkehrswende wird. Messbare Gründe: „Bis zu 75 Meter kann eine einzelne Bahn lang sein, ein Gelenkbus dagegen maximal 25 Meter. Mit einem Tramfahrzeug kann man also deutlich mehr Fahrgäste befördern als mit einem Bus“, erklärt Michael Stödter. Ein eindrückliches Beispiel ist die erste neue Straßenbahnlinie in Straßburg: 1991 fuhren hier noch Busse, 1994 feierten die wiedereingeführten Schienenfahrzeuge ihre Premiere. Ergebnis: Zwischen 1991 und 2006 stiegen die Fahrgastzahlen um 753 Prozent. Kein Wunder, dass auch in Deutschland fast alle Städte mit mehr als 200.000 Einwohner*innen Schienenfahrzeuge im Nahverkehr einsetzen. Zu den sechs Ausnahmen zählen Lübeck und – noch – die Landeshauptstadt Kiel.

Wir fragen nach besonders gelungenen Beispielen. Da wird man laut Michael Stödter immer wieder in Frankreich fündig. Neben Straßburg haben etwa 30 weitere Städte, die keine Straßenbahn mehr hatten, dort mittlerweile ein neues System eingeführt und damit dem ÖPNV enorme Zuwächse beschert. Sofern die Gutachter*innen in Lübeck eine Straßenbahn als Zukunftsperspektive empfehlen und auch die Bürgerschaft zustimmt, stünden in der Hansestadt ähnliche Herausforderungen an, wie sie auch viele französische Städte mit ihren ebenfalls denkmalgeschützten Altstädten zu bewältigen hatten. „Da gibt es gute Lösungen, teilweise ohne Oberleitung. Es ist eben ein Verkehrsmittel, das sehr gut zum europäischen Stadtgrundriss passt, mit wenig Platz auskommt und sehr effizient ist, während das Auto sehr viel Fläche braucht.“ Eine weitere kreative Idee aus Frankreich: Dort sind die Straßenbahnen oft so gestaltet, dass sie Charakteristika der Stadt integrieren. „In der Champagnerstadt Reims haben die Fahrzeugfronten die Form eines Sektkelchs und in der für feines Tuch bekannten Stadt Lyon die einer Seidenspinnerraupe. In Le Havre findet man Details der dortigen ,Béton-brut‘-Architektur auf den Fahrzeugen wieder.“

Vorbild Frankreich: Trams wie hier in Le Havre steigern die ÖPNV-Nutzung massiv

„Kiel ist prädestiniert für eine Tram.“

Dr. Christina Jakob arbeitet bei NAH.SH an der Streckeninfrastruktur im Land

Unser nächster Halt ist das Büro der NAH.SH in Kiel. Wir sind dort mit Christina Jakob verabredet. Sie ist für Streckeninfrastruktur zuständig und sowohl Straßenbahnenthusiastin als auch -expertin: „Konzepte zur Abbildung des Straßenbahnbetriebs in Verkehrsmodellen“ lautet das Thema ihrer Doktorarbeit. Sie begrüßt, dass Kiel eine Stadtbahn bekommt, denn das Ergebnis der Trassenstudie von 2020 bis 2022 war eindeutig: Nur ein innerstädtischer Schienenverkehr kann die zukünftigen Belastungen meistern, den ÖPNV-Anteil steigern und den des motorisierten Individualverkehrs verringern. „Wir werden einfach alle mobiler, vielleicht wird Kiel auch noch größer, jedenfalls müssen wir mit mehr Verkehr rechnen“, erklärt sie. „Und eine Straßenbahn ordnet sich ideal zwischen einer S-Bahn und dem Bus ein. Sie macht in kurzer Zeit Strecke, hält aber auch so oft, dass sie recht nah an die tatsächlichen Ziele der Fahrgäste herankommt.“ Wo das nicht der Fall ist, ergänzt dann der Bus das Angebot.

Kiel ist für Christina Jakob geradezu prädestiniert für eine Tram: „Die Stadt hat breite Straßenräume. Es gibt wenige Engstellen, wo man nicht so gut durchkommt und wo man Kompromisse machen muss. Zum Teil werden die Linien auf den gleichen Strecken verlaufen wie vor 1985, denn an den Verkehrsströmen hat sich nicht so viel geändert.“ Zu den günstigen Bedingungen in Kiel komme noch hinzu, dass eine Straßenbahninfrastruktur sehr lange hält: „Die Wagen fahren nicht so schnell über die Gleise und es sind keine so großen Lasten wie bei Eisenbahnen.“ Jetzt ein System neu zu bauen sei zwar schon eine große Investition für eine Stadt, aber dafür seien die Folgekosten gering.

Christina Jakob erklärt uns den sogenannten Schienenbonus: „Ganz allgemein werden Schienenfahrzeuge in der Regel nicht von Autos oder Stau behindert. Man fährt bequem und kommt weitgehend ohne Verzögerungen an. Das System ist auch sichtbarer. Ich glaube, das können wir alle bestätigen. Wenn wir in einer fremden Stadt sind, nutzen wir eher die schienengeführten Systeme, als dass wir uns mit dem Bussystem beschäftigten. Man sieht einfach, wo es langgeht.“ Natürlich gibt es auch Herausforderungen. Was ist zum Beispiel, wenn eine Straßenbahnlinie durch eine Fußgängerzone fährt? „Also gerade in Frankreich ist das total üblich. Dann führt sie quasi mitten durch die Cafés, was ich sehr schön finde. Aber in Skandinavien hätten die Menschen eher Angst, dass dann viele Unfälle passieren. Für neu zu bauende Bahnen wird man herausfinden müssen, wie das jeweilige Sicherheitsgefühl aussieht.“

Als wir auf das Thema Taktung zu sprechen kommen, versorgt uns Christina Jakob mit einem interessanten Detail: „Die Wissenschaft sagt, dass wir aufhören, auf den Fahrplan zu schauen und einfach auf die nächste Bahn oder den nächsten Bus warten, wenn der Takt bei bis zu 7,5 Minuten liegt.“ Da in Kiel drei Linien das gleiche Teilstück zwischen Gaarden-Ost und Beselerallee bedienen werden und jede der Bahnen planmäßig im 10-Minuten- Takt fahren soll, kann man dort durchschnittlich alle drei bis fünf Minuten mit einer Bahn rechnen. Kiel läge also im Innenstadtbereich weit unter der psychologischen Schwelle.

So soll das Streckennetz der Kieler Stadtbahn aussehen: Die geplanten Linien mit den ungefähren Stopps sind türkis skizziert. Gestrichelte Linien stellen mögliche Erweiterungen dar.

„Das aktuelle Bussystem kann die wachsenden
Herausforderungen nicht bewältigen.“

Anne Steinmetz, Stabstelle Mobilität der Stadt Kiel

Dieser Vorteil wird uns bei unserer letzten Station in der Kieler Stadtverwaltung bestätigt. „Das ist doch toll. Man geht hin und weiß, da kommt immer gleich eine Bahn, und steigt ein“, sagt Anne Steinmetz, die wir in den Räumen der Stabsstelle Mobilität der Landeshauptstadt in der alten Landwirtschaftskammer treffen. Sie arbeitet federführend daran, dass der Beteiligungsprozess für die Planung der Stadtbahn, wie das System hier heißt, erfolgreich ist. „Wir legen hohen Wert darauf, alle Kielerinnen und Kieler auf dem Weg zur Stadtbahn mitzunehmen und zu beteiligen. Wir haben Stadtteilforen veranstaltet und haben uns neue Formate überlegt wie zum Beispiel die sogenannten Trassenspaziergänge. Bei jeder dieser Veranstaltungen war auch jemand aus dem Planungsteam dabei, um aus erster Hand informieren zu können und Informationen aufzunehmen. Auf keinen Fall sollen sich Irrtümer rund um die Stadtbahn verbreiten.“

Die gesellschaftliche Akzeptanz stand in Kiel von Anfang an im Mittelpunkt. Es gab gründliche Untersuchungen, welches neue Verkehrssystem das beste ist. Klar war zu Beginn des Entscheidungsprozesses nur eines: Das aktuelle Bussystem kann die Herausforderungen nicht bewältigen, die durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung und durch die Klimaschutzziele anstehen.

Nach einer Grundlagenstudie von 2016 bis 2019 und der anschließenden Trassenstudie sprachen die Fakten eine deutliche Sprache: Kiel braucht eine Stadtbahn. Entsprechend einhellig verlief die Abstimmung in der Kieler Ratsversammlung Ende 2022. 2033 soll dann die erste Teilstrecke befahren werden. „Klingt vielleicht lang, ist aber ein sehr ehrgeiziger Zeitplan“, so Anne Steinmetz. Ist so eine kleinteilige Einbindung der Öffentlichkeit nicht wahnsinnig aufwändig? „Ja sicher, aber schließlich geht es auch um einen öffentlichen Raum, den Straßenraum, und der ist endlich. Also versuchen wir alle Interessen zu berücksichtigen, besonders wenn sich die geplante Veränderung bei den Leuten vor der Haustür abspielt. Erstens betrifft es die Anwohnerinnen und Anwohner direkt und zweitens wissen sie im Zweifel besser als wir, was sich dort rund um die Uhr abspielt.“ Als ein prominentes Beispiel nennt Anne Steinmetz die Holtenauer Straße, eine von Kiels zentralen Einkaufs- und Geschäftsstraßen. „Hier haben wir frühzeitig Gespräche mit den Ladeninhaberinnen und -inhabern geführt. Natürlich gab und gibt es da Bedenken, vor allem wegen der Baustellen. Aber wir sind da in einem sehr konstruktiven Austausch, den wir auch in den kommenden Jahren fortsetzen werden. Am Ende sollen alle von der Umgestaltung des Straßenraums und dem neuen System profitieren.“

Greift man bei solch einer Herkulesaufgabe wie Planung und Bau eines völlig neuen Verkehrssystems nicht auch auf Vorbilder zurück? „Vorbild würde ich nicht sagen, aber natürlich haben wir andere Städte besucht und uns die Systeme angeschaut. Wir waren zum Beispiel in Aarhus, Lund und – besonders eindrucksvoll – Odense. Da gibt es auch viele sogenannte Rasengleise. Die planen wir, wo es geht, in Kiel auch. Dadurch werden die Gleise nicht nur ansprechender als Asphalt oder Beton, man macht damit auch die Versiegelung von Oberflächen rückgängig. Auf jeden Fall haben wir bei unseren Besuchen viel mit Planern und Betreibern gesprochen und einiges über Baustellenphasen und städtebauliche Integration gelernt – und auch über die modernen Fahrzeuge, die nichts mit denen zu tun haben, die noch in den 1980er Jahren in Kiel unterwegs waren.“

Die Begeisterung, mit der Anne Steinmetz und ihre Kolleg*innen zu Werke gehen, ist spürbar. „Wir brennen hier für die Stadtbahn und freuen uns, an diesem besonderen Projekt mitarbeiten zu können!“